Mittwoch, 10. März 2010

Zur Ästhetik des Maroden

Sowohl beim Fotografieren als auch beim Betrachten stelle ich mir oft immer wieder eine Frage, wenn ich vor einem ganz bestimmten Motiv stehe:
Warum liegt Fotografien mit Sujets des Vergänglichen oder des bereits im Vergehen begriffenen eine Ästhetik und Anziehung inne, die mit dem klassischen Schönheitsprinzip nichts gemein hat?
Diese Frage ist keineswegs neu und beschäftigt die Menschen schon mindestens seit der Entstehung des Mediums Fotografie. Dennoch möchte mir meine eigenen Gedanken machen und lasse sie um das Thema kreisen:

Das Vergehen und Sterben allen Daseins entspricht dem natürlichen Lauf und wir alle unterliegen diesem Prinzip. Unseren eigenen Verfall nehmen wir, als Kinder einer auf Jugendlichkeit, Makellosigkeit und Fitness gedrillten Generation, allerdings weniger entspannt und interessiert wahr, als das von materiellen Dingen. Ruinen, von der Natur zurückeroberte verlassene Orte oder rostende Überbleibsel wirken dagegen auf geheimnisvolle Weise anziehend. Die dem Meer geweihte Lagunenstadt Venedig beispielsweise zieht Besucher magisch an und Industriebrachen geben seit jeher dankbare Motive für Fotografen. Doch worin liegt der diesen Motiven innewohnende Reiz begründet?


Ist es dem menschlichen Forschergeist und dem Festhaltenwollen eines vergänglichen Moments als Beweis des großen und übermächtigen Laufs der Natur zuzuschreiben? Strahlt das Vergängliche die schöpferische und  damit auch tötende Kraft des Kosmos aus, der auch wir uns nicht widersetzen können - die wir allenfalls als Augenzeugen in Bildern fixieren können? Spüren wir bei diesen Anblicken die Stärke einer übermenschlichen und unaufhaltsamen Macht?
Vielleicht können wir das einizge Kontiuum dieser Welt, das Werden und Vergehen, vor allem am Verfall am deutlichsten sehen und empfinden. Er hält uns unsere eigene kurzlebige Bedeutung und Wirkungsfähigkeit vor Augen. Und er mahnt uns, mit der verbliebenen Zeit sinnstiftend umzugehen.
In den mehr als ausgiebig ausgelutschten Lebensmotti, wie "Carpe Diem" oder "Jeder ist seines Glückes Schmied" liegt dennoch ein essentieller Kern, dem wir uns in der Realität des Alltags oft nicht stellen, es uns aber stets vornehmen. Darin liegt eventuell die Stärke solcher Verfallsbilder: Sie erinnern uns an unser eigenes Ende. Dieser Verfall ist in jedem angelegt und wird sich irgendwann erfüllen. Da gibt es keinen Interventionsspielraum. Der Weg dorthin ist das einzige, was wir schöfperisch, kreativ gestalten können und woran wir ein glückliches, sinnvolles Leben messen. Die Bilder des Verfalls halten uns also immer auch die Möglichkeit der individuellen Gestaltung des Lebens vor Augen, die wir bis zu unserem eigenen Vergehen jeden Tag aufs Neue bekommen. Und darin liegt ein positiver, optimistischer Gedanke, dem wir dem Anblick solcher Bilder abgewinnen können.


Das ist nur eine Interpretationsmöglichkeit, mit der man sich der Ästhetik des Verfalls nähern kann. Darüber hinaus ist die persönliche Wertschätzung von Erinnerungen und der eigenen Geschichte ein weiterer bedeutender Aspekt, der uns beim Anblick solcher Bilder immer begleitet. Die eigene Kindheit hat sich in Fotografien wie auch in imaginären, gefärbten Erinnerungsbildern im Kopf eingebrannt und begleitet unseren Blick auf die Welt. Der hohe Stellenwert der Geschichte für die Entwicklung des Menschen, ob die persönliche oder gesellschaftliche, fließt in die Betrachtung von geschichtsträchtigen oder im Vergehen begriffenen Orten immer ein. Sie erzählen uns stets etwas, und immer verknüpfen wir es mit unseren eigenen Erfahrungen. Das macht solche Bilder und deren "Lektüre" so individuell.
Wie positiv oder negativ die Interpretationen einzelner Motive gestaltet sind, hängt natürlich vom jeweils Erinnerten ab. Das Erinnern selbst jedoch gilt als wesentlicher und wichtiger Bestandteil unserer Entwicklung, da es uns hilft, begangene Fehler nicht noch einmal zu begehen und alternative Lösungen zu finden oder aber positive Erlebnisse wieder und wieder zu verwirklichen.